• Muharrem Cem-Zeremonie

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Die Erfahrungswerte, die die Rechtsextremisten in Malatya gesammelt haben, sollten einige Monate später, unweit von Malatya, erneut zum Pogrom an Aleviten in Maraş führen. Nach dem gleichen Muster ging ein explosiver Gegenstand in einem Kino hoch. Wieder sahen die Rechtsextremisten, genauer die Grauen Wölfe, Aleviten und Kommunisten als Urheber des Anschlags, wobei anzumerken ist, dass bis dato bis dato Kommunist als Synonym für Aleviten gilt. In der Nacht vom 22. Dezember 1978 erreichten die Unruhen ihren traurigen Höhepunkt. So wurden, wie zuvor in Malatya, die Häuser und Wohnungen der Aleviten markiert. Aus den Minaretten der Moschee wurde öffentlich die Ermordung der Aleviten religiös legitimiert. Am 23. Dezember 1978 begann das Pogrom. Die Nationalisten töteten, folterten, vergewaltigten, peinigten drei Tage lang und der Staat schaute förmlich nur zu. Am vierten Tag schickte die Regierung unter Bülent Ecevit eine Armeeeinheit, die jedoch weitere Übergriffe nicht verhindern konnte. Die Bilanz von Maraş war noch erschreckender als die von Malatya – es gab viel mehr Tote, viel gravierender war das Ausmaß der Zerstörung.

Die Pogrome von Malatya und Maraş führten dazu, dass die Regierung über die 13 Provinzen im Südosten der Türkei den Ausnahmezustand verhängte. Als offizielle Begründung für die Übergriffe gab die Regierung einen Konflikt zwischen Linke und Rechte an und verschwieg der breiten Öffentlichkeit die Wahrheit – den von Nationalisten geplanten, von staatlicher Seite geduldeten Mord an Aleviten.

Im Jahre 1979 wurden weiterhin vereinzelte Angriffe auf Aleviten registriert, allerdings sollte das Jahr 1980 erneut für die Aleviten traumatisch enden, wieder ein Pogrom, wieder Leid und Elend – diesmal traf es die Aleviten in Çorum.

Am 27. Mai 1980 wurde in Eskişehir Gün Sazak ermordet, ein ranghohes Mitglied der nationalistischen MHP. Sein Tod führte zu landesweiten Protesten der Grauen Wölfe, insbesondere waren die Proteste gegen Aleviten gerichtet. In Çorum wurden Flugblätter verteilt, die den Hass auf Aleviten und Linke schüren sollten. Am 30. Mai kam es in alevitischen Vierteln zu Auseinandersetzungen. Viele Aleviten wurden verletzt und kamen in Gefangenschaft. Zu dieser Zeit wurde eine Barrikade errichtet und ein Ausgangsverbot in Çorum verhängt. Am 4. Juli spitzte sich die gewaltsame Auseinandersetzung immer mehr zu, da die Mitglieder der nationalistischen Grauen Wölfe überall erzählten, dass die Aleviten die Alladin-Moschee angegriffen und mit Tränengas attackiert hätten. Die Hetzjagd auf die Aleviten wurde auf diese Weise erneut religiös legitimiert und die gewaltsamen Angriffe auf die Aleviten in Çorum mündeten erneut in einem Pogrom. An diesem Tag bis zum Morgen des 5. Juli wurden alevitische Wohnviertel und Dörfer angegriffen. Zahlreiche Menschen wurden schwer verletzt und ermordet. Auch das Parteigebäude der CHP wurde schwer beschädigt. Es wurden Häuser in Brand gesetzt. Die Streitkräfte schickten zwei Heeresbataillone in die Provinz zur Unterstützung der Gendarmerie.

Die Rechtsanwalts- und Notargehilfin N.C. hat als Heranwachsende das Massaker von Çorum überlebt. Sie befand sich zu der Zeit, als das Massaker an Aleviten vollzogen wurde, nicht unmittelbar in der Stadt, sondern am Stadtrand. Ihre Großeltern waren von den Spannungen zwischen den Aleviten, die hauptsächlich im linken, und den Sunniten, die im nationalistisch-islamischen Spektrum aktiv waren, stark eingeschüchtert. Deswegen verließen sie ihre Wohnung und gingen zur Stadtgrenze, um schneller fliehen zu können, wenn die Kontrolle über die Stadt in die Hände der Nationalisten fallen sollte.

Vermutlich war das das Richtige, was meine Oma und mein Opa getan haben. Ich lebe heute, weil wir instinktiv das Richtige gemacht haben. Wir sind vor den brennenden Öfen geflohen. Tage später kamen Freunde und Verwandte, die diesen Mord überlebt haben. Verdammt – der Vater meiner Freundin, er war ein Dede, wurde lebendig in den Ofen geschmissen. Überall auf der Straße lagen abgeschnittene Ohren. Ich habe da gedacht, dass Aleviten noch weniger wert sind als Tiere, denen man vor der Schächtung die Augen zubindet, damit sie keine Angst bekommen. Mit Aleviten darf man alles machen. Jahre später wurde ich bestätigt, als diese Barbaren in Sivas erneut Aleviten lebendig verbrannten. Der damalige Justizminister hat die Verteidigung der Mörder übernommen. Aleviten sind Beute. Jeder darf sie töten. Ich habe als Alevitin Angst in der Türkei. Ich möchte dort als Alevitin niemals leben.

Die Interviewte N.K. hat das Massaker von Çorum als jugendliche Alevitin überlebt. Ihre Erfahrungen beschreibt sie als äußerst schmerzhaft und möchte sich im Grunde genommen nicht zurückerinnern, da die Bilder in ihrem Gedächtnis nach wie vor lebendig sind.

Oh man, ich habe das Massaker von Çorum knapp überlebt. Das war die Hölle für mich. Ich habe alles live miterlebt. Wir hatten erst einmal keine Probleme. Irgendwann habe ich mitbekommen, dass es Faschos und Linke gibt. Alles war sehr komisch. Die Menschen waren anders geworden. Jeder hatte vor jedem Angst. Im Schulhof sah ich zwei Jungen, wie sie sich schlugen. Gestern noch Freunde, heute Feinde. Das konnte ich nicht fassen. Alles nur Scheinbild, eine Lüge. Als alles zu kritisch wurde, gingen wir in unser Dorf. Wir wollten Sicherheit. Wir hatten Angst. Jeder war in Çorum bewaffnet. Çorum war in zwei geteilt: Oberçorum und Unterçorum. In einem Teil lebten mehr Sunniten und in dem anderen mehr Aleviten. Viele Aleviten, die bei den Sunniten lebten, verkauften zu Spottpreisen ihre Wohnungen und Läden. Die ahnten schon, was passieren wird. Klar: Davor gab es Malatya und Maraṣ. Da haben alle gesehen und gehört, was mit Alevis passiert, wenn sie sich nicht unterwerfen und Sünnis werden. An dem Tag, an dem das Çorum-Massaker stattfand, also direkt an dem Tag, war ich im Dorf. Ich habe Tage später die Dimension des Mordes mitbekommen. Dem Freund meines Bruders wurden die Ohren abgehackt. Ein anderer wurde lebendig in den Ofen geschmissen. Diese Barbaren. Heute geht es weiter. Mit der ISIS. Töten, foltern, verbrennen, vergewaltigen im Namen der Religion. So wie damals bei uns in Çorum, in Sivas. Wir Aleviten passen nicht in den Orient. Wir sind zu friedlich. Ich kenne keinen Alevi, der im Namen der Religion einen Sünni umgebracht hat. Kennen Sie jemanden, der das gemacht hat?

Als offizieller Grund wurden immer, wie zuvor auch, politische Auseinandersetzungen zwischen den Rechten und Linken angegeben. Die Hinwendung zum linken Spektrum begann in der Zeit, in der die ersten alevitischen Jugendlichen und Heranwachsenden ihre Dörfer verließen und in die Städte kamen, um hier zur Schule bzw. zur Universität zu gehen. Die erste Binnenmigration der Aleviten fing in den 1950er-Jahren an. Die alevitische Jugend kam an den Hochschulen und Universitäten mit links-revolutionären Ideologien in Berührung, denen sie sich fast ausnahmslos verschrieb. Entsprechend diesen neuen ideologischen Einflüssen wurde die historische Opposition der tribal organisierten Dorfgemeinschaften uminterpretiert und ihr Widerstand gegen die osmanische Zentralmacht als früher Klassenkampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung gelesen. Die politische Polarisierung, wie sie sich im Laufe der 1970er-Jahre in der Türkei zuspitzte, unterdrückte aber diese diversen Orientierungen unter den Aleviten. Sie wurden ebenso stereotypisiert und mit dem linksrevolutionären Block gleichgesetzt, wie der politische Islam mit dem rechten Rand identifiziert wurde. Religion wurde im Links-Rechts-Antagonismus des Kalten Krieges entsprechend aufgeladen. Faschisten und auch die religiös extremen Rechten versuchten ihre Anhänger zu mobilisieren, indem sie Ängste gegenüber der alevitischen Bevölkerung schürten. Dabei bedienten sie sich sowohl jahrhundertealter Vorurteile als auch einer antikommunistischen Rhetorik. Diese Hetze kumulierte in einer Serie blutiger Attentate und Pogrome gegen die alevitische Bevölkerung. Am 12.September 1980 griff die Armee unter Kenan Evren mit einem Militärputsch ins Geschehen ein. Ihre Machtübernahme begründete sie u.a. mit der bestehenden Gefährdung des türkischen Säkularismus. Nach dem Militärputsch waren die alevitischen linksrevolutionären Aktivisten massiven staatlichen Repressionen ausgesetzt und gingen ins Exil.