Die Aleviten, die nach Deutschland kamen, hatten unterschiedliche Motive, ihre Heimat zu verlassen. Die Ersten unter ihnen kamen im Zuge der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer in den Jahren ab 1961 nach Deutschland. Nach dem Septemberputsch Evrens im Jahre 1980 verließen erneut viele Aleviten die Türkei und suchten im Ausland, insbesondere in Deutschland, nach Asyl. Mittlerweile leben seit fünf Jahrzehnten Aleviten in unserer Gesellschaft und genossen lange Zeit nur wenig Beachtung in der deutschen Öffentlichkeit. Wurden die Aleviten anfangs unter „Gastarbeiter", dann unter „Ausländer" und „Türken" subsumiert, treten heute verstärkt die eigenständigen Züge der religiösen und kulturellen alevitischen Traditionen hervor: Nicht wenige sprechen davon, dass das Alevitentum nicht nur klar vom schiitischen und selbstverständlich vom türkisch-sunnitischen Islam zu unterscheiden sei, sondern überhaupt außerhalb des Islams stehe. Dass die eigene Zuordnung und damit das Selbstverständnis der Aleviten selbst nicht einheitlich ist, hängt mit der Geschichte und der Situation der Aleviten in der Türkei zusammen. Die Aleviten gehören zweifellos zu jenen Religionsgemeinschaften, die trotz ihrer Bedeutung unbekannt blieben oder verschwiegen wurden.

Alevilik („Alevitentum") ist ein moderner Überbegriff für ursprünglich verschiedene heterodoxe Strömungen im Osmanischen Reich, die allesamt von der islamischen Orthodoxie als häretisch verunglimpft wurden bzw. werden. Viele Angehörige heterodoxen Glaubens mussten „Takiye" betreiben, das heißt, dass sie ihre eigene religiöse Identität verbergen mussten, um in einem potenziell missgünstigen Umfeld nicht aufzufallen. Spätestens seit dem Pogrom von Sivas 1993 haben viele Aleviten sowohl in der Türkei als auch in Deutschland das Takiye aufgegeben. Viele Aleviten, die in ihrer Kindheit und Jugend keinen Zugang zu den eigenen Wurzeln hatten bzw. haben konnten, entdecken nun ihre religiösen und kulturellen Überlieferungen neu, teilweise mit beträchtlichen biografischen Folgen. Erstmals wächst eine selbstbewusste alevitische Generation heran, die zugleich mit den nachhaltigen Prägungen der älteren Generationen umgehen muss, für die die Entwicklungen zum Teil schwer nachvollziehbar sind.

In Deutschland erreichten die Aleviten 2007/2008 den endgültigen Durchbruch zur größeren Bekanntheit mit einer Großdemonstration in Köln, an der mehrere Zehntausend Demonstranten aus ganz Europa teilnahmen. Eine Welle von Veranstaltungen in ganz Deutschland, Presseerklärungen und juristische Klagen gegen einen "Tatort-Krimi", der am 23.12.2007 in der ARD ausgestrahlt wurde, war der Anlass für diese „Bekanntheit". Die deutsche Öffentlichkeit reagierte größtenteils mit Unverständnis und verglich das Verhalten der Aleviten mit dem der gegen die Muhammed-Karikaturen im Herbst 2005 weltweit protestierenden Moslems. Der Protest wurde als Angriff auf die künstlerische Meinungs- bzw. Gestaltungsfreiheit interpretiert.

Was war jedoch der Auslöser für Tausende von Aleviten aus ganz Europa, am Tag vor Silvester 2007 den weiten Weg mitten im Winter nach Köln auf sich zu nehmen? Warum reagierten die Aleviten so empfindlich auf diesen Krimi?

Der Anlass für den alevitischen Protest waren die im „Tatort" reproduzierten verleumderischen Vorwürfe gegen die Aleviten. Schon seit Jahrhunderten wurde dieser Gemeinschaft Blutschande in religiösen Zeremonien, die Respektlosigkeit gegenüber anderen Religionen sowie ausschweifendes und tabuloses Sexualleben, Blasphemie usw. vorgeworfen, mit fatalen Folgen für die Aleviten. Jene Ressentiments, die über Jahrhunderte zum Tod von Abertausenden Aleviten führten, wurden im „Tatort" ausgestrahlt und zwar am exakt Jahrestag des Maras-Massakers, wo ein grausames Pogrom an Aleviten vollzogen wurde, das sehr viele Menschen das Leben kostete und dessen juristische und politische Aufarbeitung bis dato nicht vollständig erfolgt ist. Mittlerweile sind Aleviten europaweit vernetzt, gut organisiert und stellen eine politisch aktive gesellschaftliche Gruppe dar. Es gibt zurzeit mehr als 150 alevitische Vereinigungen in Deutschland, die dem Dachverband der Alevitischen Föderation Deutschland bzw. der Alevitischen Konföderation Europa unterstehen. In der Diaspora erlangten Aleviten Rechte, die ihnen in ihrer Heimat bis heute verwehrt sind: Zum ersten Mal weltweit wurde 2002 der alevitische Religionsunterricht an Berliner Schulen eingeführt, in vielen anderen Bundesländern ist der alevitische Religionsunterricht bereits obligatorisch, das heißt, ein versetzungsrelevantes Pflichtschulfach (beispielsweise in Nordrhein-Westfalen). Die Hansestadt Hamburg schloss einen Staatsvertrag mit den Hamburger Aleviten, in Dänemark sind alevitische Organisationen schon Körperschaft des Öffentlichen Rechts geworden, in vielen deutschen Bundesländern arbeiten die lokalen Vereinigungen an der Einrichtung eines universitären Lehrstuhls oder streben wie im Land Berlin die Körperschaft des Öffentlichen Rechts an.

In der Migration, zwischen mehreren Kulturen, Sprachen und Religionen aufwachsend, suchen immer mehr alevitische Migranten mit alevitischem Hintergrund nach ihrer Identität.

Das Ergebnis dieser Suche ist von vielen multikausalen Faktoren abhängig: Zum einen müssen die Migranten sich mit ihren ursprünglichen Wurzeln bzw. mit der Geschichte ihrer ursprünglichen Heimat auseinandersetzen. Im Fall der Gemeinschaft der Aleviten ist dies äußerst schwierig, weil sie in der Türkei weder als religiöse noch als sozial eigenständige Gruppe anerkannt sind. Das hat zur Folge, dass die Aleviten einem staatlich gelenkten Assimilationsdruck ausgesetzt sind, der das Ziel hat, die Aleviten in den sunnitischen Islam zu integrieren. Zum anderen müssen die Aleviten sich als Migranten in der hiesigen Mehrheitsgesellschaft definieren können, um gesellschaftlich partizipieren zu können.

Die Geschichte der alevitischen Bewegung ist noch relativ jung, und in der Spannung zwischen Herkunftskontext und neuem Heimatland kommt es innerhalb der Gemeinschaft zu sozialen und damit letztlich auch zu religiösen und kulturellen Neuorientierungen. Insofern sind wir gegenwärtig Zeugen des Selbstfindungsprozesses einer Religionsgemeinschaft, die sich in der Diasporasituation gleichsam neu definiert.


Devrim Deniz TANER
Bildungsbeauftragte der Alevitischen Gemeinde zu Berlin